Das ganze Lesen, Denken, Schreiben um Heimat in den letzten Tagen hat mich an eine Beschäftigung mit einem ganz ähnlichen (aber vermutlich weniger vereinnahmungssgefährdeten) Begriff vor knapp einem Jahr erinnert: Zuhause.
Hier in Bielefeld gibt es alle Jahre wieder am letzten Aprilsamstag die Nachtansichten – eine Nacht der Museen, Kirchen und Galerien, in der inzwischen über 50 solcher Kulturorte zwischen 18 und 1 Uhr ein besonderen Programm anbieten. Seit 2009 beteiligt sich auch meine Kirchengemeinde daran, wenn wir es mit unseren ehrenamtlichen Ressourcen leisten können.
2017 stand unser Beitrag (mit dem wunderbaren Duo 2Flügel als Bühnen-Highlight) unter dem Titel Zuhause. Dieser Titel war angeregt durch eine Ziel-Formulierung für unsere Gemeindearbeit „Menschen ein Zuhause geben“. An diesem Abend haben wir unter anderem Fotos mit Texten (Zitatsätze, Gedichtetes, oder auch nur ein Titel) ausgestellt, die Fragen anrissen wie: Was macht für mich Zuhause aus? Was gehört neben vertrauten Orten noch dazu?
Einen Teil der Fotos durfte ich selbst beitragen, einige davon auch mit eigenen, andere mit gefundenen Texten. Mit diesem und den folgenden Blogposts möchte ich ein paar von diesen Bildern und Texten vorstellen. Hier ist das erste:
In der Ausstellung wurde das Bild begleitet von dem Liedtext „B96“ von Silbermond. Aufgenommen habe ich es in einem niedersächsischen Dorf, in das es mich nie verschlagen hätte, wenn ich nicht ein besinnliches Wochenende in dem kirchlichen Tagungshaus verbracht hätte, das sich dort versteckt hält.
Der exakte Ort ist eigentlich auch egal. Es hätte genausogut der inzwischen verschwundene Kaugummiautomat im Dorf meiner Kindheit sein können. Dieses eine Bild von irgendwo öffnet ein ganzes Fotoalbum voll alter Heimat in meinem Kopf:
Da ist der Tante-Emma-Laden, den es schon so lange nicht mehr gibt, dass ich fast ganz vergessen habe, wie er von innen aussah.
Die Bauernhausdiele mit dem eigenartigen Geruchsgemisch aus Vieh, Heu und unbehandelter Milch, wo wir uns die scheppernde Blechkanne füllen ließen.
Der sommerliche Eisverkauf an einer ganz normalen Haustür, zu der wir barfüßig über den heißen Asphalt gepilgert sind. Neben der Tür die Langnese-Tafel, auf der das Cornetto eine ganze Mark kostete, ein Brauner Bär aber zum Glück nur die Hälfte.
Die abschüssige Sackgasse zum Spritzenhaus, die ganz uns Kettcar- und Bonanzaradfahrern gehörte, und in der wir einander unseren Wegezoll in großen flaumigen Haselnussblättern bezahlten.
Der Birnbaum an der Garagenmauer, über den man mit etwas Geschick und absolut verboten auf das flache Well-Eternit-Dach klettern konnte.
Der kleine Bach hinterm Haus, in den man auf gar keinen Fall hineinstolpern durfte, weil die Klärgruben-Abwasserrohre der angrenzenden Grundstücke in ihn mündeten. Trotzdem war die holunderbewachsene Böschung zwischen Grenzmauer und Bach unser ganz eigenes Paradies, in dem wir mit verwitterten Stahlrohrstühlen und anderem Trödel ein Vatermutterkind-Zuhause bauten.
Die dämmrigkühlen Morgenminuten an der Schulbus-Haltestelle und die angespannten Hausaufgaben-Endspurts im Bus.
Das zu Beschämung geronnene Gelingen, als ich, der schlechteste Werfer von allen, im Streit aus großer Entfernung ein Stück Knochen nach einem Nachbarsmädchen warf — und sie tatsächlich traf. Am Kopf. Die Platzwunde musste ärztlich behandelt werden.
Oder der einzige Versuch, eine der beiden alten Torlinden des gegenüberliegenden Bauernhofs zu bezwingen, der jäh endete, als ich in 4m Höhe aus einer Astgabel abrutschte. Mittelfußbruch, Schädelriss, einige Minuten Filmriss, einige Wochen liegen. Ich habe verdammtes Glück gehabt. Ich hätte auch auf das Gittertor fallen können.
Ich kann mich kaum erinnern, unseren Dorfkaugummiautomaten überhaupt mal benutzt zu haben. Ein halbes Dutzend Mal vielleicht…
Das Dorf, in dem ich den fotografierten Automaten gefunden habe, hat übrigens den poetischen Namen Hanstedt II. In Worten: „Hanstedt Zwei“, das ist doch zum Auf-der-Zunge-zergehen-Lassen. Vielleicht zu verträumter Versenkung in dieses andere Foto, das ich dort auch noch von ihm gemacht habe: